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28 × Lebenswerte Stadt – Ein Städtedialog mit Basel

Kind spaziert auf einem Weg in einem bewaldeten Bereich in der Stadt.
Sankt Kjelds Plads Kopenhagen: Mehr Grün am Verkehrsknotenpunkt
© Mikkel Eye

Transformation und Zukunft – für eine vielfältige Baukultur

Wie gestalten wir Städte, die nicht nur lebenswert, sondern auch zukunftsfähig sind? Das vierte und abschliessende Panel der Reihe Ein Städtedialog mit Basel, die begleitend zur Ausstellung Lebenswerte Stadt – 28 × Stadtentwicklung in Dänemark von Mitte August bis Mitte September 2025 im Museum Kleines Klingental stattfand, brachte führende Expertinnen und Experten aus Dänemark und der Schweiz zur Reflektion und zum Ausblick zusammen: Kathrin Susanna Gimmel (JAJA Architects, Dreyers Fond), Silke Langenberg (ETH Zürich), Anne Pfeil (Bundesamt für Kultur, Sektion Baukultur) und Beat Aeberhard (Kantonsbaumeister Basel-Stadt) diskutierten gemeinsam mit Nicolai Bo Andersen und Victor Boye Julebæk (beide Royal Danish Academy, Cultural Heritage, Transformation and Conservation – Centre for Sustainable Building Culture) – moderiert von Chrissie Muhr.

Kopenhagen gilt seit Jahrzehnten als Labor für nachhaltige Stadtplanung – vom Fünf-Finger-Plan von 1947 über Jan Gehls A Metropolis for People und das Eco Metropolis-Projekt bis zum CPH Climate Plan 2012 mit Klimaneutralitätsziel 2025 und den jüngsten Copenhagen Lessons 2023. Auch Basel denkt und plant mit dem Forum Städtebau ‹Basel2050› die lebenswerte Stadt von morgen. Der Dialog zwischen der Schweiz und Dänemark setzte Impulse dazu, wie Baukultur historische Erfahrung, Material-Ökologien, gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse und Praktiken für unsichere Zukünfte zusammenführt – im kritischen Dialog mit den Themen der Ausstellung Lebenswerte Stadt, wie Daniel Schneller, Kantonaler Denkmalpfleger und Direktor des Museums Kleines Klingental, sie in seiner Begrüssung skizzierte: gute Gestaltung, Ökologie, Vielfalt, Pflege des Bestands und Erhaltung sozialer Milieus als Brücke zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Diskussion in einem Sitzkreis mit mehreren Personen in schwarz-weiss.
In der Diskussion, Silke Langenberg (2.v.r.) erläutert den Transformationswert mit Chrissie Muhr und Victor Boye Julebæk (4.v.r.)
© Selina Seibel

Zu den Personen:

  • Daniel Schneller ist Kantonaler Denkmalpfleger, Leiter Kantonale Denkmalpflege des Kantons Basel-Stadt und führt als Direktor das Museum Kleines Klingental.
  • Victor Boye Julebæk  ist Architekt, PhD, und Associate Professor an der Royal Danish Academy – Centre for Sustainable Building Culture, wo er das Masterprogramm Cultural Heritage, Transformation and Conservation leitet. Sein übergeordnetes Forschungsthema sind die Materialien der Transformation.
  • Nicolai Bo Andersen ist Architekt und Professor an der Royal Danish Academy, wo er das Centre for Sustainable Building Culture und das Masterprogramm Building Culture – Sustainability, Strategy and Transformation leitet. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf der Poetik der Transformation sowie auf Nachhaltigkeit und Baukultur.
  • Silke Langenberg ist Professorin für Konstruktionserbe und Denkmalpflege an der ETH Zürich. Ihre Professur ist dem Institut für Denkmalpflege und historische Bauforschung sowie dem Institut für Technologie in der Architektur zugehörig.
  • Kathrin Susanna Gimmel ist Gründungspartnerin von JAJA Architects und Vorstandsmitglied des Dreyers Fond, wo sie innovative Projekte zu nachhaltiger Architektur und Materialanwendungen entwickelt und fördert.
  • Anne Pfeil ist seit 2024 Leiterin des Dienstes Grundlagen und Projekte der Sektion Baukultur im Schweizerischen Bundesamt für Kultur (BAK) in Bern und Mitglied des Runden Tisches von Baukultur Schweiz. Beim BAK ist sie u.a. verantwortlich für die Verbreitung und Umsetzung des Konzeptes einer hohen Baukultur auf nationaler und internationaler Ebene.
  • Beat Aeberhard ist Kantonsbaumeister des Kantons Basel-Stadt und leitet die Dienststelle Städtebau & Architektur, die die Bereiche Raumplanung, Städtebau, Stadtraum, Hochbau, Gebäudemanagement und Kantonale Denkmalpflege umfasst.

Historischer Kontext und nachhaltige Zukunft von Baukultur

Nicolai Bo Andersen und Victor Boye Julebæk reflektieren in ihrer Einführung die Baukultur, im Bestehenden und als Vorwegnahme auf das Kommende: Was bedeutet Baukultur heute, weshalb wird sie umso dringlicher in unsicheren Zeiten, und was sollten wir kommenden Generationen weitergeben? Dabei erinnern sie an Vitruv, der die Entstehung menschlicher Gesellschaften mit der Entdeckung des Feuers verknüpfte: Feuer ermöglichte Schutz, Versammlung und Wissensaustausch – die ersten experimentellen Praktiken einer Baukultur. Heute jedoch droht uns das Paradox: Was Zivilisation möglich machte, gefährdet sie zugleich, wenn wir fossile Ressourcen und Ökosysteme unverantwortlich nutzen.

In einer sich wandelnden Welt, argumentieren sie, müssen wir unterscheiden zwischen Handing over – dem passiven Weitergeben von Wissen und Handing down – der aktiven Weitergabe von Verantwortung und Handlungsmacht. In Dänemark gibt es derzeit eine rege Diskussion darüber, wie wir uns an neue Realitäten anpassen und welche Veränderungen dafür notwendig sind. Ein prägnantes Beispiel für eine neue Generation von Baukultur, die Verantwortung, Bildung und Handwerk verbindet, ist das dänische Pilotprojekt und Manifest Apprentices for Sustainability1, das aus dem Umfeld des Danish Green Youth Movement hervorging: Respekt vor planetaren Grenzen, Diversität und Sicherheit, Förderung von Gemeinschaft, Bildung der nächsten Generation und Schutz gemeinsamer Werte.

Wie können wir Baukultur in einer instabilen, sich rasch verändernden Welt aktiv gestalten? Welche Methoden und Prinzipien lassen sich aus der Geschichte ableiten, und wie können sie Zukunftsfähigkeit, Gemeinschaft und ökologische Verantwortung miteinander verbinden? Das 1990 von Voyager 1 aufgenommene Foto der Erde – Pale Blue Dot – zeigt unseren Planeten als winziges Staubkorn im Sonnenstrahl. Das unterstreicht angesichts des rasant voranschreitenden Klimawandels nochmals unsere Verantwortung für Städte, Baukultur und Umwelt.

Lösungsansatz Baukultur

Das Panel eröffnete mit den Fragen von Nicolai Bo Andersen und Victor Boye Julebæk: Wie verstehen wir den Begriff Baukultur – und welche Bedeutung messen wir ihm in einer Zukunft bei, die, wie wir wissen, unsicher ist? Damit verbunden ist die Frage nach dem Wert: Wir können nicht alles erhalten. Was bewahren wir, und was geben wir auf?

Silke Langenberg (SL) An der ETH verfolgen wir in Forschung und Lehre häufig den Ansatz Making the Past productive. Das betrifft einerseits das, was bereits vorhanden ist – also die materiellen Werte – und wie wir diese kultivieren. Andererseits geht es auch um die immateriellen Werte: das Wissen über Baukultur, das uns aus der Vergangenheit zur Verfügung steht. Oft gilt Denkmalpflege als rückwärtsgewandt oder konservativ. Doch wir versuchen, sie aus dieser Ecke herauszuholen und die Fortschrittlichkeit der Ansätze zu betonen. Wir arbeiten nicht nur mit der Vergangenheit, sondern immer in der Gegenwart – mit dem Blick auf die Zukunft: Wie können wir bestehende Gebäude an die nächste Generation weitergeben, materiell und immateriell?

Genau hier liegt die Herausforderung. In der Denkmalpflege gilt das historische Objekt und seine Substanz als höchster Wert. Das stellen wir nicht in Frage, versuchen die Objekte aber differenzierter zu betrachten und entsprechend ihrem materiellen, historischen, technischen oder wissenschaftlichen Wert zu behandeln.

Wir haben dafür kürzlich einen neuen Wert in die Diskussion eingeführt: den Transformationswert der gebauten Umwelt. Er beschreibt Objekte, die bewusst für Veränderung vorgesehen sind. Gerade im Kontext unsicherer Zukünfte kann darin enormes Potenzial liegen – auch wenn es uns als Denkmalpflegerinnen und Denkmalpfleger in schwierige Situationen bringt. Denn was tun wir mit etwas, das per Definition nicht konserviert oder restauriert, sondern transformiert werden soll?

Ich denke, unsere Aufgabe ist es, die Forschung voranzutreiben, die nicht nur die Probleme von heute adressiert, sondern jene, die in fünf oder zehn Jahren auf uns zukommen. Das ist die eigentliche Herausforderung.

Anne Pfeil (AP) Ich möchte zunächst den Begriff Baukultur präzisieren. Auf nationaler und internationalen Ebene sprechen wir bewusst seit der Erklärung von Davos von Baukultur. Der Grund: Wir wollen den Blick nicht nur auf Gebäude richten, sondern auf den gesamten Lebensraum, den wir gestalten – Architektur, Landschaft, öffentliche Räume ebenso wie die Prozesse, die diese Entwicklung prägen. 

Im Davos Qualitätssystem für Baukultur2 wird dies konkretisiert. Dort werden acht Kriterien für eine hochwertige Baukultur beschrieben – von Governance und Funktion über Umwelt und Kontext bis hin zu Schönheit. Gerade Schönheit ist ein Aspekt, über den wir in den letzten Jahrzehnten kaum noch gesprochen haben, der aber ein wesentlicher Aspekt für die Qualität von Orten ist.

Wir alle gestalten täglich Baukultur – bewusst oder unbewusst –, indem wir Räume nutzen, verändern und bewerten. Doch in den letzten Jahrzehnten ist viel von dem verloren gegangen, was historisch gewachsene Städte und Quartiere lebenswert gemacht hat. Neue Siedlungen weltweit, nicht nur in Europa, zeigen, dass menschlich orientierte Qualitäten oft fehlen: Identität und Authentizität.

Die aktuellen Herausforderungen machen dies besonders sichtbar: Resilienz, Klimaanpassung, Bezahlbarkeit, sozialer Zusammenhalt, Kreislaufwirtschaft, der Umgang mit Katastrophen wie Überschwemmungen oder Erdrutschen, die mittlerweile auch in unseren Breitengraden Realität sind.

Gerade deshalb halte ich es für gefährlich, die Lehren der Vergangenheit aufzugeben. Im Umgang mit dem historischen Bestand geht es nicht nur um das Bewahren, sondern um eine kontinuierliche Transformation unseres unmittelbaren Umfelds: Was können wir nutzen, was können wir weiterentwickeln, was dürfen wir auch loslassen?

Die Lösung liegt daher nicht in völlig neuen Ideen, sondern in einem ortsspezifischen, kontextbezogenen Weiterbauen – in jeder alltäglichen Entscheidung. Und diese Entscheidungen sollten immer reflektieren: Welchen Beitrag leisten wir zur Gesellschaft, zur Gleichheit, zur Schönheit und zum menschlichen Massstab? Baukultur bedeutet, Räume zu schaffen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Dabei geht es nicht allein um funktionale Anforderungen, sondern auch um kulturelle Bedürfnisse der Menschen, wie dem nach Schönheit und Ortsverbundenheit.

Ökonomische und politische Aspekte der Baukultur

Baukultur ist hochpolitisch: Sie erfordert die Beteiligung aller – von der Bevölkerung bis zu Investorinnen und Investoren – und die Bereitschaft, auch unbequeme ökonomische und regulatorische Fragen anzugehen.

Chrissie Muhr (CM) Welche Barrieren sehen Sie konkret? Wie unterscheiden sich die Herausforderungen in der Schweiz und in Dänemark?

Kathrin Susanna Gimmel (KSG) Ich erlebe heute, dass unsere Baukultur sehr fragmentiert ist. Baukultur besteht nicht nur aus dem, was wir bauen, sondern auch daraus, wie wir bauen – und wer es baut. Momentan sehe ich zwei Pole: Auf der einen Seite gibt es die Forderung, gar nicht mehr zu bauen. Auf der anderen Seite wird für ein Weiter-so plädiert, nur mit ein paar weiteren Zertifikaten. Das spaltet.

Die Frage ist: Wie kann Baukultur als gemeinsame Praxis weiterentwickelt werden, um den Herausforderungen unserer Zeit wirklich zu begegnen?

Gleichzeitig erleben wir eine stark bürokratisierte Baukultur: Alles muss dokumentiert, reguliert, abgesichert werden. Letztendlich dreht sich vieles um die Frage nach Kosten, Risiken und Verantwortlichkeiten. Aber wie können wir diese Hindernisse beiseiteschieben, um wirklich mit Baukultur zu arbeiten – jenseits von Formalien? Das scheint mir eine zentrale Herausforderung.

Die Bauwirtschaft – und damit auch die Baukultur – ist zutiefst vom Geld geprägt. Wenn wir also Baukultur verändern wollen, müssen wir auch unsere Haltung zu Geld und unsere gesellschaftliche Organisation verändern. Das ist zunächst ein politisches Thema.

In Architekturkreisen sind wir uns oft erstaunlich schnell einig, wie eine gute Baukultur aussehen sollte. Aber dann prallt diese Einigkeit auf eine Realität, die ganz anders funktioniert: geprägt von Gesetzen, Vorschriften und Prozessen, die Bauvorhaben oft ausbremsen. Die entscheidende Frage lautet daher: Wie arbeiten wir mit dieser Realität – und wie verändern wir sie?

Aus dänischer Sicht sind die grössten Barrieren oft in der Gesetzgebung, wirken sich spürbar im Alltag von Projekten und Genehmigungsprozessen aus. Interessant ist der Vergleich zwischen Dänemark und der Schweiz:

In Dänemark prägt ein starkes nationales Selbstverständnis die Baukultur. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte der Wohlfahrtsstaat für ambitionierte Gesetze, die den schnellen Wohnungsbau ermöglichten und enorme Innovationen im Betonbau hervorbrachten. Die Leitidee: Alle Menschen im Land sollten bessere Lebensbedingungen erhalten.

Die Schweiz hingegen ist historisch viel stärker von lokaler Vielfalt geprägt – von bäuerlichen Gemeinschaften, die sich gegen Monarchien behaupteten, über regionale Sprachen bis hin zu Eigenheiten wie kulinarischen Traditionen. Lange Zeit definierte sich die Baukultur weniger durch grosse nationale Programme als vielmehr durch kleine Handwerksbetriebe, die in direktem Wettbewerb standen. Die Qualität des Handwerks war entscheidend für das Ansehen.

Beide Modelle haben ihre Stärken: Dänemark zeigt, wie gemeinsames Handeln unter klaren Regeln grosse Fortschritte möglich macht. Die Schweiz zeigt, wie individuelle Qualität und lokale Verantwortung Baukultur prägen können. Vielleicht liegt die Zukunft darin, beides zu verbinden: ehrgeizige gemeinsame Ziele und zugleich die Förderung handwerklicher Qualität auf lokaler Ebene.

Wenn wir die Baukultur wirklich verändern wollen, müssen wir die wirtschaftlichen Mechanismen genau betrachten – und hier spielt der Wohnungsmarkt eine grosse Rolle. Auf der einen Seite wird er vom Markt beeinflusst, auf der anderen Seite staatlich reguliert – und genau hier liegen viele Herausforderungen.

Es geht um Besteuerung beim Kauf und Verkauf von Immobilien, Zugang zu Krediten, Rahmenbedingungen für Neubauten. Darf der Markt einfach so von Immobilienentwicklern gesteuert werden, oder sollten Regeln stärker vorschreiben, was gebaut werden darf und wie es verkauft werden kann? Solche Veränderungen erfordern tiefgreifende politische Eingriffe.

Politikerinnen und Politiker setzen die Regeln – sie werden von Bürgerinnen und Bürgern gewählt, die oft selbst finanziell betroffen wären, etwa durch höhere Steuern auf Immobiliengewinne. Das macht Veränderungen schwierig.

Ein weiteres Beispiel sind die Pensionskassen: Sie sind für die Altersvorsorge der Bevölkerung wichtig, investieren aber oft in Immobilien, die wiederum enorme ökologische Folgen haben. Das zeigt: Baukultur ist eng mit wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen verknüpft – und es braucht umfassende Lösungen, um sie wirklich nachhaltig zu gestalten.

WIE KÖNNEN WIR BAUKULTUR IN EINER INSTABILEN, SICH VERÄNDERNDEN WELT AKTIV GESTALTEN?

Beat Aeberhard (AeB) Die Frage der Baukultur ist eine sehr grosse Frage, die sich nicht leicht beantworten lässt. Für mich beginnt sie mit Grundwerten wie Demut und Respekt – Respekt vor dem, was bereits da ist, und vor unserer Umgebung. Demut bedeutet auch, sich bewusst zu machen: Was kann ich überhaupt in einer Welt verändern, die sich so schnell wandelt?

Dabei geht es nicht nur um materielle Artefakte und deren Wert – auch das Wissen, die Handwerkskunst und die Bildung spielen eine zentrale Rolle. Das bedeutet, dass sich das Berufsbild dramatisch erweitern muss: Es geht um ökologische, soziale, kulturelle und klimatische Anpassungsaspekte. Wir befinden uns in einem grundlegenden Paradigmenwechsel.

Baukultur ist hochpolitisch. Es braucht regulatorische Rahmenbedingungen, CO₂-Bepreisung und ein Umdenken in Finanzierungsfragen – gerade auch in Bezug auf Wohnraum und Pensionskassen. Gleichzeitig müssen wir die Bevölkerung stärken und beteiligen. Die Menschen sind Expertinnen und Experten des Alltags, sie kennen ihre Bedürfnisse vor Ort. Ich denke, genau das ist entscheidend.

Ein Beispiel: Bei der Präsentation der neuen Pläne für die Umgestaltung des Hafenareals hörte ich zahlreiche Anliegen der Anwohnenden. Sie wünschten sich sichere Räume für Begegnung, für Kinder, für den Alltag – Orte, die nicht konsumorientiert sind, sondern Raum geben zum Sein. Solche Perspektiven müssen ernst genommen werden.

Wir müssen darauf achten, dass Baukultur nicht zu einem elitären Diskurs wird. Viele Menschen leben in den Agglomerationen oder ausserhalb der inneren Stadtzentren, und oft wird die Diskussion nur am Beispiel der Innenstadt geführt – in Städten wie Basel oder Zürich. Wir müssen Strategien entwickeln, um alle Ebenen der Stadtgesellschaft und des Stadtlebens einzubeziehen.

Baukultur erfordert daher zwei Ansätze: Wir müssen die Menschen befähigen, ihre Umwelt aktiv mitzugestalten, und gleichzeitig die Qualität der Konzepte vermitteln, damit sie für alle nachvollziehbar werden. Es geht darum, aus Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart zu lernen und zugleich aktiv die Zukunft zu gestalten.

AP Mit dem Schaffen eines entsprechenden Bewusstseins bei den Entscheidungsträgern und -innen wird ermöglicht, zukunftsfähige Gesetze zu erlassen, Regeln zu definieren und die realen Kosten unseres Handelns zu berechnen. Das ist entscheidend, denn viele Kosten – für Gesundheit, Sicherheit, sozialen Zusammenhalt oder Integration – werden derzeit nicht erfasst. Uns fehlt das Wissen, wie wir diese externen Kosten quantifizieren können.

Auf nationaler Ebene ist das eine enorme Herausforderung. Deshalb sind Initiativen wie die globale Davos Baukultur Allianz3 so wichtig: Hier versuchen wir, gemeinsam mit Investoren, dem privaten Sektor, der Gesellschaft und der Verwaltung Lösungen zu finden. Es braucht einen mentalen Wandel – ein neues Denken, um Probleme gemeinsam anzugehen.

Für die Berufsgruppen bedeutet das, transdisziplinär zu denken und zu handeln. Wir müssen von einer sektoralen Sicht auf Planung und Handlung zu einer ganzheitlichen Perspektive wechseln. Das ist herausfordernd, gerade weil die Kosten in allen Bereichen so vielfältig sind.

Inklusion, Bildung und kollektive Verantwortung

Damit öffnet sich automatisch das Feld für Inklusion: Wer wird gehört, wer trifft die Entscheidungen, und wie erreichen wir alle gesellschaftlichen Gruppen? Wie können unterschiedliche Stimmen in die Stadtentwicklung einbezogen werden? Wer entscheidet, was bleibt und was geht, und wie können wir verschiedene Perspektiven berücksichtigen?

CM Was sind die ganz konkreten Dinge in je Ihrer täglichen Praxis oder Arbeit? Gibt es Situationen, Projekte oder Entscheidungen, bei denen Sie unmittelbar eingreifen können? Gibt es konkrete Momente, in denen Sie wirklich Einfluss nehmen – etwas, das Sie gerade erlebt haben oder das zeigt, wo und wie wir wirklich etwas bewirken können?

SL Eigentlich wissen wir schon seit Jahrzehnten, was zu tun wäre – und doch passiert zu wenig und vor allem viel zu langsam. Wir reden über Ressourcen, Geld und Immobilien, aber diejenigen, die die Entscheidungen treffen, verstehen oft gar nicht, was Architektur eigentlich ist. Sie denken, wir arbeiten einfach mit Real Estate. Wir müssen die Menschen erreichen, die investieren und gestalten – und sie baukulturell besser ausbilden. Die jungen Architektinnen und Architekten wissen längst, was richtig ist. Aber diejenigen mit Macht und Kapital müssen wir überzeugen und aufklären. Das ist entscheidend.

CM Ist das letztlich eine Frage von Bildung? Oder liegt darin vielleicht auch die besondere Stärke der Architektur – dass sie Zukunft antizipieren und über Erzählungen wirken kann? Müssen wir stärker über Architektur sprechen, über Qualität, Schönheit, über Zukunftsbilder – statt nur über Architektur als Objekt?

SL Nein, es geht nicht nur um Narrative. Der Markt scheint nur Zahlen zu verstehen. Wenn man vorrechnet, wie absurd ihre Entscheidungen im Hinblick auf CO₂ oder Materialverbrauch sind – wenn man den wahren Preis dieser Ressourcen einführt – dann hört der Abriss sofort auf. Das ist eine gesellschaftliche oder auch politische Verantwortung, keine ästhetische Frage.

AeB Letztlich ist es eine Frage der Qualität. Wir als Gesellschaft müssen verstehen, dass ein Leben mit weniger tatsächlich bessere Lebensqualität bietet. Entscheidend dafür ist das Empowerment und die Beteiligung der Bevölkerung. Es geht darum, gemeinsam zurückzublicken, aber auch vorauszudenken und zu antizipieren, was zukünftig geschehen kann und sollte.

WER ENTSCHEIDET, WAS BLEIBT UND WAS GEHT, UND WIE KÖNNEN WIR VERSCHIEDENE PERSPEKTIVEN BERÜCKSICHTIGEN ?

SL Bei unserem Projekt A Future for Whose Past?  war es schwierig, mit Minderheiten in Kontakt zu treten. Oft sind es immer dieselben privilegierten Gruppen, die sich in Beteiligungsprozessen engagieren. Wir müssen diejenigen erreichen, die nicht ohnehin schon involviert sind. Ein Beispiel: In Zürich zeigt ein obdachloser Mann im Rahmen von Stadttouren die für ihn wichtigen Orten – dies ermöglicht eine ganz andere Perspektive auf die Stadt. Soziale Randgruppen werden oft aus dem Stadtzentrum verdrängt; ihre Räume in Agglomerationen werden kaum wahrgenommen. Um eine inklusive Baukultur zu entwickeln, müssen wir bottomup arbeiten. Top-down-Entscheidungen reichen nicht. Denkmalpflege und Baukultur sind weiterhin stark durch Expertinnen und Experten geprägt, aber es ist wichtig, dass auch auf neue oder andere Stimmen gehört wird. In der Schweiz ist das Erbe von Minderheiten als Teil des kulturellen Erbes anerkannt. In die Entscheidung darüber, was als Erbe von Minderheiten erhalten wird, sind sie selbst aber kaum einbezogen. Vielleicht werden am Ende die falschen Objekte für sie geschützt.

AP Wir brauchen dichtere Strukturen besonders für den Wohnraumbedarf und Landschaftsschutz, aber die Diskussion findet oft nur in den gut entwickelten Städten statt. Historische Stadtteile haben sich über lange Zeit entwickelt, oft aus schlechten Bedingungen zu hoher Lebensqualität. Agglomerationsräume müssen in Bezug auf Lebensqualität und Nutzungsvielfalt aufgewertet werden – materiell, aber auch qualitativ. Es geht darum, Wohnraum, Arbeitsbereiche und öffentliche Räume miteinander zu verbinden und eine ähnlich hohe Lebensqualität zu ermöglichen wie in den historischen Stadtteilen.

Methoden und Chancen

CM Die Diskussion über Baukultur, Nachhaltigkeit und Inklusion hat eindrücklich gezeigt, dass wir uns in einem dynamischen Spannungsfeld bewegen: Zwischen historischen Werten, materieller Substanz, ökonomischen Zwängen, sozialen Bedürfnissen und ökologischen Anforderungen. Ein zentraler Punkt ist der Transformationswert4 von Baukultur – die Fähigkeit, bestehende Räume, Materialien und Wissensbestände nicht nur zu bewahren, sondern als aktiven Prozess weiterzuentwickeln. Dieser Wert ist dynamisch, laufend im Wandel und lässt sich nur schwer in starre Kategorien oder Standards fassen. 

Baukultur ist ein fortlaufender Transformationsprozess, der Wissen, Erfahrung, Empathie und Partizipation umfasst. Sie erfordert die Bereitschaft, vielfältige Perspektiven einzubeziehen, zukünftige Bedürfnisse zu antizipieren und bestehende Strukturen kritisch zu hinterfragen. Zugleich eröffnet sie die Chance, Städte und Lebensräume resilient, sozial inklusiv und ökologisch nachhaltig zu gestalten. Die Erfahrungen aus der Schweiz und Dänemark zeigen, dass internationale Kooperation, Plattformen für Austausch und Allianzen für Baukultur essenziell sind, um diesen Wandel langfristig zu unterstützen.

Abschliessend bleibt die Einladung: Baukultur ist nie abgeschlossen – sie lebt von fortwährender Reflexion, interdisziplinärem Dialog und der aktiven Mitgestaltung aller Beteiligten – in diesem Sinne sind wir alle Apprentices for Sustainable Building Culture. Nur so kann Baukultur die Herausforderungen der Gegenwart adressieren und zugleich Chancen für eine lebenswerte Zukunft eröffnen.

Programmübersicht

Begleitend zur Ausstellung Lebenswerte Stadt – 28 × Stadtentwicklung in Dänemark. Ein Städtedialog mit Basel der Königlich Dänischen Botschaft in Berlin und des Dänischen Stadtplanungslabors, in Kooperation mit Städtebau & Architektur Basel-Stadt, Forum Städtebau ‹Basel 2050› und der Kuratorin Chrissie Muhr fanden vier öffentliche Dialogveranstaltungen statt. 
Als ‹dialogische Klammer› begleiteten Prof. Nicolai Bo Andersen und Victor Boye Julebæk (Royal Danish Academy) alle Termine mit thematischen Inputs.

  • 13. August 2025
    Lebenswerte Stadt?
    Vernissage und Podium mit Input The City as Archive.
    Mit Tina Saaby (Dansk Byplanlaboratorium), Beat Aeberhard (Kantonsbaumeister Basel-Stadt). Moderation: Andreas Kofler.
  • 27. August 2025
    Regenerative Stadt
    Stadtspaziergang Lysbüchel & Podium mit Input Material Ecologies
    Mit Anne Beim, Line Kjær Fredriksen (CINARK), Søren Nielsen (Vandkunsten), Friederike Kluge (alma maki), Nuno Silva (Studio Hammer). Moderation: Chrissie Muhr.
  • 10. September 2025
    Gemeinsam Stadt bauen
    Stadtspaziergang Riehenteich & Podium mit Input Finding Common Ground.
    Mit Justine Bell (Djernes & Bell), Tore Banke (Third Nature), Charlotte Truwant & Dries Rodet (Truwant+Rodet+), Juan Brunetti (Studio Céline Baumann). Moderation: Andreas Kofler.
  • 24. September 2025
    Baukultur in Dänemark und der Schweiz
    Finissage & Podium mit Practices for an Uncertain Future.
    Mit Kathrin Gimmel (JAJA Architects / Dreyers Fond), Prof. Dr. Silke Langenberg (ETH), Anne Pfeil (BAK), Beat Aeberhard (S&A BS). Moderation: Chrissie Muhr.

  1. Apprentices for Sustainability, ein Pilotprojekt im Rahmen der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (2019 – 21) und der UIA (2023 – 24): Mehrere dänische und internationale Unternehmen in Dänemark bieten nachhaltigkeitsorientierte Ausbildungs- und Projektmöglichkeiten an. Beispiele hierfür sind Contecos Programm Apprentices for Sustainability, das Auszubildende in nachhaltigen
    Bauverfahren schult, sowie Ørsteds Angebote im Bereich erneuerbare Energien.
  2. Strategie Baukultur, Bundesamt für Kultur, Bern, 2020. Am 26. Februar 2020 verabschiedete der Bundesrat die nationale Strategie Baukultur für die Schweiz. Siehe: https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/konzept-baukultur/strategie-baukultur.html
  3. Auf internationaler Ebene verabschiedeten auf Initiative der Schweiz die Kulturministerinnen und Kulturminister Europas im Januar 2018 die Erklärung von Davos «Eine hohe Baukultur für Europa». Mit dieser wurde eine hohe Baukultur auf europäischer Ebene politisch und strategisch verankert. Siehe: https://www.davosalliance.org/home.
  4. Prof. Dr. Silke Langenberg : Transformationswert der gebauten Umwelt, Int. Symposium 30. – 31. Januar 2025, ETHZ,  https://www.langenberg.arch.ethz.ch/diskurs/transformationswert-der-gebauten-umwelt/.

Autorin: Chrissie Muhr
ist Architektin, Researcher und Kuratorin in Basel. Sie ist Managing und Artistic Director der Experimental Foundation in Berlin. Sie fördert experimentelle, praxisbasierte Ansätze und Vermittlung für nachhaltige Architektur an der Schnittstelle von Forschung, Lehre, Kultur, Praxis und Gesellschaft.

Städtebau & Architektur

Karte von Basel-Stadt
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Münsterplatz 11
4001 Basel

Öffnungszeiten

Mo-Fr 8.00-12.00 / Mo-Do 13.30-17.00 und Fr 13.30-16.00

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