Angehörigenpflege und Beruf unter einen Hut bringen – Eine grosse Herausforderung für Gesellschaft und Wirtschaft
MedienmitteilungPräsidialdepartement
An der Tagung „work & care“ wurden Praxis-Instrumente für Unternehmen vorgestellt -- Die Zahl der älteren pflegebedürftigen Menschen wird sich von heute 125'000 um 46 % auf gut 182'000 im Jahr 2030 erhöhen. Der von der Abteilung Gleichstellung von Frauen und Männern initiierte Round Table Familienfreundliche Wirtschaftsregion Basel und das Forschungsinstitut Careum F+E zeigen konkrete Lösungswege auf für eine gelingende Vereinbarkeit von Beruf und Pflege von Angehörigen.
Tiefe Geburtenraten und hohe Lebenserwartung verschieben die Alterspyramide zusehends: Im Jahr 2030 kommen auf 100 Erwerbstätige bereits 50 Pensionierte. Die Zahl der älteren pflegebedürftigen Menschen wird um 46 % im Jahr 2030 erhöhen. Demenzerkrankungen werden noch stärker zunehmen. Hinzu kommt, dass sich dank medizinischen und technischen Fortschritten das Leben mit Gesundheitsbeeinträchtigung deutlich verlängert.
Für Unternehmen bedeutet dies: Immer mehr Mitarbeitende kümmern sich neben der Erwerbstätigkeit um die Pflege ihrer Angehörigen. Laut Betriebserhebungen betrifft dies aktuell bis zu 25 % der Belegschaft. Mitarbeitende sind deshalb auf Arbeitsbedingungen angewiesen, welche sowohl die Betreuung von gesunden Kindern als auch die Pflege von Partner/innen, betagten Angehörigen und kranken oder behinderten Kindern ermöglichen.
An der Medienorientierung wies Regierungspräsident Guy Morin darauf hin, welch negative Folgen Vereinbarkeitskonflikte der Mitarbeitenden für sie selbst und auch für den Staat haben können: „Reduzieren Erwerbstätige mit Pflegeaufgaben ihr Pensum oder steigen aus dem Beruf aus, haben sie finanzielle Einbussen und gefährden ihre eigene Altersvorsorge. Der öffentlichen Hand entgehen Steuereinnahmen und sie hat ein erhöhtes Armutsrisiko der Betroffenen im Alter aufzufangen.“ Eveline Erne von Bank Coop ergänzte: „Den Unternehmen geht wertvolles Knowhow verloren: Sie werden es angesichts des Fachkräfte-mangels schwerer haben, qualifizierte Mitarbeitende zu gewinnen und haben deshalb alles Interesse, für eine stimmige work-life-Balance ihres Personals zu sorgen. Lösungen werden möglich, wenn das belastende Thema Angehörigenpflege enttabuisiert wird.“
Aktuelle Entwicklungen zu Beruf und Angehörigenpflege im In- und Ausland zeigte Iren Bischofberger vom Forschungsinstitut Careum F+E auf: „Für die Schweiz ist besonders erfreulich, dass die Fachhochschulforschung mit den Entwicklungen in Unternehmen Hand in Hand geht, mehr als in Deutschland. Dort ist hingegen die Gesetzgebung mit der Einführung des Pflegezeitgesetzes weiter vorangeschritten.“
Frauen übernehmen gemäss traditioneller Rollenverteilung noch immer den Hauptteil der Angehörigenpflege und sind deshalb übermässig stark von Lohneinbussen und Karriere-Knicks betroffen. Leila Straumann von der Abteilung Gleichstellung betonte jedoch: „Die zunehmende Erwerbstätigkeit der Frauen, der hohe Anteil an Scheidungen und Kleinfamilien und auch der eigene Wunsch, für die nächsten Angehörigen da zu sein, bewirken eine Verantwortungs-übernahme der Männer. Dem ist in Unternehmen Rechnung zu tragen.“ Philipp Waibel vom Gesundheitsdepartement prognostizierte: „Die Möglichkeit und Bereit-schaft zur privaten Pflege von Angehörigen wird künftig massiv abnehmen, wenn wir den Betroffenen heute nicht durch familienfreundliche Massnahmen am Arbeitsplatz und finanzielle Anreize entgegen kommen.“
An der Tagung wurden konkrete Instrumente für Unternehmen vorgestellt, die den Personalverantwortlichen eine Hilfestellung bieten. Das Forschungsinstitut Careum F+E hat zusammen mit Pilotfirmen sowie der Abteilung Gleichstellung von Frauen und Männern Basel-Stadt und "familienservice" Winterthur drei Praxistools entwickelt: eine online-Umfrage für die Situationsanalyse im Betrieb, ein elektronischer Leitfaden für Personal-verantwortliche sowie eine Portraitbroschüre zu 15 Berufstätigen mit pflegebedürftigen Angehörigen. Diese Instrumente sind nun verfügbar und dienen dazu, die Herausforderungen der Angehörigenpflege sowohl auf der individuellen, wie auch auf Betriebs- und Beratungsebene sichtbar und handhabbar zu machen. Silvia Heiniger von Swisscom hat gute Erfahrungen mit den „work & care – Praxistools“ gemacht: „Sie helfen, das Thema in der Unternehmens-kultur zu verankern. Nur wenn Mitarbeitende spüren, dass sie bei familiären Aufgaben bei Bedarf auf Unterstützung zählen können, kann aus grosser Belastung eine win-win-Situation für Mitarbeitende und Unternehmen werden.“
Auch Betroffene kamen zu Wort: Marlise Scherrer, Chefarztsekretärin in einem Spital, hat ihren vor 10 Jahren an Alzheimer erkrankten Ehemann lange zu Hause gepflegt und betreut ihn noch heute fast täglich abends im Pflegeheim: „Dies gelingt dank einem ausgeklügelten und flexiblen Care-Arrangement, das ohne die Unterstützung durch Arbeitskolleg/innen, Familie, Bekannte und Pflegepersonen nicht möglich wäre.“
Wie wichtig eine gute Zusammenarbeit aller Beteiligten ist, zeigte sich an der Podiumsdiskussion unter dem Motto „Care-Arbeit geht alle an!" Es wurde klar: Die Vereinbarkeitsproblematik lässt sich nur lösen, wenn Unternehmen, Verwaltung und Politik ihre Aufgaben wahrnehmen. Von Seiten der Arbeitgebenden braucht es gezielte Beratung, Information sowie Massnahmen, die auf die Bedürfnisse der Erwerbstätigen zugeschnitten sind, wie flexible Arbeitsarrangements oder Serviceleistungen. Staatliche Rahmenbedingungen sind ebenso zentral: Neben dem Ausbau von Infrastruktur und Betreuungsangeboten für betagte Menschen wurde auch über bezahlte Betreuungstage, finanzielle Beiträge an die Pflege zu Hause und die Möglichkeit einer beschränkten Lohnkompensation gesprochen. Solche Regelungen gibt es im Kanton Basel-Stadt bereits. Es gilt nun, sie stärker für berufstätige Angehörige mit Pflegeaufgaben nutzbar zu machen.
Hinweise
Der Round Table Familienfreundliche Wirtschaftsregion Basel wird die Erkenntnisse der Tagung weiter verfolgen. Initiiert von der Abteilung Gleichstellung, beteiligen sich Privatwirtschaft, Verbände und Verwaltungsstellen mit schweizweit über 66'000 Mitarbeitenden, die potenziell von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen profitieren können. Weitere Informationen zur familienfreundlichen Wirtschaftsregion (inkl. Portraits und Unternehmens-Check): www.familienfreundliches-basel.ch