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Chancen auf dem Weg in den Beruf

News

Die Wege vom Ende der obligatorischen Schulzeit bis ins Berufsleben sind vielfältig, manchmal steinig, manchmal angenehm, oft reich an Kurven. Mit zunehmender Wegstrecke werden erfahrungsgemäss auch die Rucksäcke der Schülerinnen und Schüler grösser. Wo gibt es Unterstützung auf dem Weg? Wo kann man abladen? Wer geht mit? Die folgenden vier Beiträge zeigen die breite Palette an unterschiedlichen Angeboten, die einen Beitrag zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit im Bereich Mittelschulen und Berufsbildung leisten. Vom unverbindlichen Walk-In-Angebot L17 bis hin zum national verankerten fiB-Programm wird der Bogen bewusst weit gespannt. Im Zentrum stehen schulinterne Angebote. Der Fokus liegt auf deren Stärken, den Möglichkeiten, die sie eröffnen oder eben: den Chancen.

Sandra Bettoni mit Brille steht in einer Kunstschule, Studenten im Hintergrund.
«Wir können vermitteln und beruhigen», Sandra Bettoni, fiB-Verantwortliche an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel.

Den Weg in den Beruf ebnen

Geldsorgen, Unstimmigkeiten am Arbeitsplatz, Lernschwierigkeiten oder Schulangst: Lernende, die eine zweijährige beruflichen Grundbildung mit Eidgenössischem Berufsattest (EBA) absolvieren, können bei Bedarf auf eine fachkundige individuelle Begleitung (fiB) durch eine speziell qualifizierte Lehrperson zählen. Ziel ist ein gelungener EBA-Abschluss mit einer konkreten Anschlusslösung. Sandra Bettoni leitet seit acht Jahren das fiB-Team der Allgemeinen Gewerbeschule Basel. 

Ein 23-jähriger Mann aus Syrien, der unter finanziellem Druck seinen Lehrvertrag auflösen möchte, um möglichst effektiv Geld für eine dringend notwendige Zahnbehandlung zu verdienen; ein junger Familienvater aus Eritrea, der aufgrund von sprachlichen Missverständnissen kurz vor dem Lehrabschluss seinen Ausbildungsplatz verliert oder junge Frauen, die mit Verweis auf ihre Familien ihre Ausbildungen nach kurzer Zeit abbrechen, um zu heiraten. Das Team der fachkundigen individuellen Begleitung (fiB) an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel ist mit einer breiten Palette von Fragestellungen konfrontiert. «Die Lernenden kommen aus unterschiedlichen Strukturen mit verschiedenen Vorgeschichten zu uns. Sie bringen zum Teil sehr grosse Rucksäcke mit», resümiert die fiB-Beauftragte der Schule, Sandra Bettoni: «Wir können die Probleme oft nicht selber lösen, dazu braucht es Profis aus anderen Bereichen, aber wir können beruhigen und vermitteln und schauen, dass der berufliche Weg gut läuft.» 

Vertrauen als Basis
Das achtköpfige Team um Bettoni ist während der Ausbildungszeit ein Ort der Triage. Es arbeitet eng mit anderen Stellen wie der Fachstelle Lehraufsicht, den Lehrbetrieben, dem Gap - Case Management Berufsbildung, dem Sozialamt, dem Migrationsamt oder der Opferhilfe zusammen. «In einem Standortgespräch zu Beginn der Ausbildung schauen wir, wie der Lernende oder die Lernende eingebettet ist. Gibt es bereits Unterstützung, konstruktive Lösungen, die wir anzapfen können?», erläutert Bettoni. 
Die Basis für eine erfolgreiche Begleitung sei wie bei allen pädagogischen Disziplinen ein Vertrauensverhältnis zu den Lernenden: «Das ist der anspruchsvollste Teil der Arbeit, er braucht Zeit und Geduld.» So habe etwa eine junge Frau aus der Mongolei anderhalb Jahre gebraucht, bis sie ein Problem angesprochen habe. «Sie ist vom Typ und von ihrer Sozialisation her sehr zurückhaltend, jetzt haben wir aber Lösungen gefunden und sie ist erleichtert und glücklich.» 
Die fachkundige individuelle Betreuung läuft an der Allgemeinen Gewerbeschule über Lehrpersonen, die Berufskunde oder Allgemeinbildung unterrichten und über eine Zusatzausbildung in Coaching verfügen. Das hat den Vorteil, dass die Lehrpersonen die Lernenden im Klassenverband regelmässig sehen, erklärt Bettoni:  «Man spürt, wenn etwas nicht gut ist, und kann während des Unterrichts oder in Pausen klären, ob Redebedarf da ist.» 

Abschluss mit Anschlusslösung
Der grösste Teil der Anliegen machen Lernschwierigkeiten aus, gefolgt von Sprachbarrieren. Um bei Bedarf unkompliziert und kostengünstig einen intensiven Sprachunterricht zu ermöglichen, wurde vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit Benevol Schweiz, dem Dachverband für Freiwilligenarbeit, ein Pool an Freiwilligen geschaffen. So erhalten Lernende, die erst kurz in der Schweiz, aber sehr motiviert sind, parallel zu den schulischen Förderkursen die Möglichkeit, ihre Deutschkenntnisse in kurzer Zeit zu verbessern. 
Ziel des fiB-Angebots ist ein gelungener EBA-Abschluss mit einer konkreten Anschlusslösung. Das erfordert von den Lehrpersonen Offenheit, wie Bettoni betont: «Wir sind für alle da, unabhängig von ihrem Hintergrund, woher sie kommen und wohin sie gehen. Man darf die Leute nicht erziehen, sie sollen in ihrem Leben machen, was sie wollen und müssen nicht im gelernten Beruf bleiben. Das Wichtigste sind ein Abschluss und ein gestärktes Selbstwertgefühl, die Fähigkeit, selber konstruktive Lösungen zu finden. Wie die dann aussehen, ist offen.»

Fachkundige individuelle Begleitung (fiB)

Seit 2005 ist die fachkundige individuelle Begleitung fester Bestandteil der zweijährigen beruflichen Grundbildung mit Eidgenössischem Berufsattest (EBA). Das freiwillige Unterstützungsangebot ist auf nationaler Ebene verankert und setzt bei den Bedürfnissen der Lernenden an. Ziel ist ein erfolgreicher Ausbildungsabschluss. In den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft ist die Umsetzung innerhalb von bikantonal verabschiedeten Richtlinien an die einzelnen Schulen delegiert.

Gemeinsames Lernen

Raum für Arbeit, Pause und Gemeinschaft: Am Gymnasium Leonhard bietet «Lernen am Leo» den Schülerinnen und Schülern eine niederschwellige Möglichkeit für begleitetes Lernen.

Moderne Bibliothek mit roten Sofas und Metalltreppe.
Das Projekt «Lernen am Leo» bietet Ruhe, Infrastruktur und Support durch eine Lehrperson.

Es ist ein luftiger heller Trakt im zweiten Stock des Gymnasiums Leonhard. Die Bestände der Mediothek leuchten in bunten Farbstreifen von den Regalen. Im Raum stehen üppige Zimmerpflanzen, ein Sofa, grossflächige Arbeitstische und Computer mit grossen Bildschirmen. Ein idealer Ort, um in einer ungezwungenen Atmosphäre gemeinsam Zeit zu verbringen, zu lernen oder auszuruhen. Konrektor Rolf Gutiérrez führt durch die Räumlichkeiten: «Die Schülerinnen und Schüler verbringen viel Zeit an unserer Schule, sie ist ein Lern- aber auch ein Lebensort.» 
An dieser Schnittstelle zwischen Unterricht und Freizeit setzt das Projekt «Lernen am Leo» oder «L17», wie es an der Schule kurz genannt wird, an. Im «L17» ist jeweils über Mittag und an vier Tagen pro Woche auch vor Schulbeginn ab 07.30 Uhr und nach dem Unterricht bis 18.30 Uhr eine Lehrperson vor Ort. Sie hilft bei inhaltlichen Fragen, gibt Tipps zu Arbeitsorganisation oder Lerntechniken, löst einen Papierstau in Drucker oder vermittelt an andere Angebote der Schule wie die Lernateliers oder das Lerncoaching. 

Abbau von Barrieren
Das Angebot ist offen für alle und benötigt keine Anmeldung. Der Zugang ist bewusst niederschwellig und unverbindlich gehalten. Gutiérrez betont den Stellenwert des gemeinsamen Arbeitens. Jugendliche, die in Gruppen lernen, üben wichtige Sozialkompetenzen: «Eine Klasse ist eine Gemeinschaft für die vier Jahre hier am Gymnasium. Die Schülerinnen und Schüler sollen voneinander profitieren, einander helfen und so unterschiedliche Voraussetzungen ausgleichen. Wir versuchen das zu fördern.» Schülerinnen und Schüler, die in engen räumlichen oder schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen aufwachsen, finden im L17 Ruhe, Infrastruktur und Support durch eine Lehrperson.
Zudem verweist Gutiérrez auf die Vorteile, die sich ergeben, wenn Lehrpersonen und Schülerinnen und Schüler einen Arbeitsraum teilen: «Es werden Barrieren abgebaut, wenn die Schülerinnen und Schüler realisieren, dass Lehrpersonen im selben Raum etwas vorbereiten. Sie kommen dann eher auf uns zu. Die gemeinsame physische Präsenz an einem Ort wird in Zukunft wichtiger und wertvoller. Das ist eine Konsequenz der Digitialisierung.»

Chancen für Jugendliche mit Migrationshintergrund

Das Entwicklungsprojekt «ChâBale» an der WMS, der IMS und dem Wirtschaftsgymnasium richtet sich an Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen. Ziel ist ein geglückter Schulabschluss. Wie läuft das konkret ab? Ein Besuch.

Menschen arbeiten in einer Bibliothek an Tischen mit Laptops.
Lernen nach Schulschluss in der Mensa der WMS/IMS und des Wirschaftsgymnasiums.

«Haben Sie ein Lernziel bekommen? Wann haben Sie Ihre Prüfung? – Holen Sie sich erst etwas zu trinken.» Umringt von einer Gruppe Schülerinnen und Schüler aus der Wirtschaftsmittelschule sitzt Handan Gögen an einem der Tische in der Mensa. Es ist nach vier Uhr und es geht um Finanzbuchhaltung, um Fragen zur Deklarationspflicht oder das Prinzip der Verrechnungssteuer. Die Lehrerin für Wirtschaft und Recht klärt Fragen anhand konkreter Beispiele. Es wird ruhig gearbeitet, auch an anderen Orten im Raum. «Wenn ich hier bin, lerne ich auch wirklich und bin nicht dauernd abgelenkt», meint eine Gymnasiastin, die mit zwei Kolleginnen einen Vortrag zu «Romeo und Julia auf dem Dorfe» vorbereitet. Eine andere Schülerin schätzt die Unterstützung, die sie in Informatik bekommt: «Das kann ich mir zu Hause nicht selber beibringen.»
Die dreissig Schülerinnen und Schüler, alle aus ersten Klassen, werden von acht Lehrpersonen während eines Jahres jeweils zwei Stunden pro Woche begleitet. «Die Jugendlichen sollen nach einem individuellen Lehrplan vorgehen. So ist eine Binnendifferenzierung möglich, die der Regelunterricht nur selten zulässt», resümiert Stefan Rüegger, der mit Handan Gögen das Programm leitet: «Wir wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch das Selbstbewusstsein der Teenager stärken. Denn Jugendliche mit Migrationshintergrund, die aus sozioökonomisch tieferen Schichten kommen, haben schlechte Startbedingungen. Sie hören oft, wo sie nicht genügen, und bekommen schulisch weniger Unterstützung von ihrem Umfeld.» Wer sich für «ChaBâle» entscheidet, verpflichtet sich für zwei Semester. Das schaffe Kontinuität und sichere den Erfolg des Programms, fügt Rüegger an. 

Zentral ist die Autonomie
Maria Alma Kassis, Dozentin für Pädagogische Psychologie mit Schwerpunkt Erziehung und Entwicklung an der PH FHNW, evaluiert und entwickelt das Programm laufend weiter. Aktuell stehen die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im Fokus ihres Interesses: «Wie können wir die Erfahrungen, die wir in den vergangenen vier Jahren mit Lernenden der Wirtschaftsmittelschule gemacht haben, auf die Situation der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten des Wirtschaftsgymnasiums übertragen?» 
In der aktuellen Gruppe sind 13 Jugendliche aus dem Gymnasium integriert. Möglichst viele von ihnen sollen in vier Jahren die Matur bestehen. Zentral sei dabei die Autonomie der Jugendlichen. Sie sollen ihre Bedürfnisse und Lernwünsche selber formulieren und zur Vorbereitung rechtzeitig an die Lehrpersonen übermitteln, erklärt die Pädagogin: «Das ist vor allem am Anfang gar nicht so einfach. Sie lernen so aber auch Arbeitsorganisation.» Über «ChaBâle» sollen die Schülerinnen und Schüler innerhalb eines Jahres an die freiwilligen Lernateliers herangeführt werden, die an der Schule jeweils einmal pro Woche stattfinden. Ab kommendem Januar sollen Praktikantinnen und Praktikanten der PH FHNW am Projekt mitarbeiten, die Abklärungen laufen.

ChaBâle

«ChaBâle» ist ein Förderprogramm für Schülerinnen und Schüler auf der Sekundarstufe II. Im Zentrum stehen Jugendliche mit Migrationshintergrund in schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen. Das Konzept wurde in Anlehnung an die Zürcher Programme «ChagALL» und «ChagALL+»  entwickelt. Der erste Pilot an der Wirtschaftsmittelschule in Basel startete 2016, seither wird das Programm stetig weiterentwickelt. Es wird von der PH FHNW wissenschaftlich begleitet und finanziell vom Kanton, privaten Stiftungen und der PH FHNW getragen.

Offene Türen für alle

Am Zentrum für Brückenangebote läuft bis im Sommer 2025 ein Pilotprojekt zur Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit IV Anspruch (SP+-Pilot). Wir fassen die wichtigsten Punkte zusammen.

An der der Clarastrasse werden in zwei Lerngruppen Jugendliche mit IV-Anspruch gemeinsam mit Regelschülerinnen und -schülern unterrichtet. Das zweijährige Projekt wird von der PH FHNW begleitet, von der IV teilfinanziert und bietet Platz für bis zu zehn Schülerinnen und Schüler mit IV-Anspruch. Das Lehrpersonenteam ist klein, alle arbeiten als Allrounderinnen in hohen Pensen: «Das ist hilfreich für die emotionale Bindung und für die Begleitung», resümiert Projektleiterin Claudia Diez: «Das Ziel ist es, dass alle auf dem Arbeitsmarkt eine Lehrstelle finden. Die Schülerinnen und Schüler mit IV-Anspruch bekommen bei der Berufswahl noch zusätzlich Unterstützung durch die Berufsberatung der IV. Das ist aber der einzige Unterschied innerhalb der Gruppe.»

Adventsgarten und Caterings 
Da die Heterogenität in den Lerngruppen gross ist, wird teilweise selbstorganisiert mit Hilfe von Lernbausteinen gearbeitet. Ein Schwerpunkt liegt auf Projektarbeiten, die immer praktische Anwendung finden. So besuchten im vergangenen Spätherbst verschiedene Kindergärten aus der Umgebung den sorgsam gestalteten Adventsgarten am ZBA oder genossen die vorweihnachtliche Bäckerei. Insbesondere die Kinder aus den benachbarten SpA-Kindergärten schätzen die Interaktion mit den Jugendlichen sehr, Schülerinnen und Schüler des ZBA sammeln dort erste Arbeitserfahrungen. Ein Zweierteam hat einen Spielplatz-Guide entworfen, der die Bedürfnisse der Kinder der Spezialangebote in den Blick nimmt. Andere Projektarbeiten beschäftigten sich mit Caterings, die zu besonderen Anlässen angeboten wurden. Und in unregelmässigen Abständen sorgt das hauseigene Café Pilotti für Austausch zwischen geladenen Gästen. «Unsere Türen stehen immer für alle offen», betont die erfahrene Heilpädagogin Diez. 
Noten gibt es einzig in Mathematik und Deutsch, die übrigen Fächer werden durch Kompetenzzeugnisse abgedeckt, die festhalten, was gemacht und welche Kompetenzen gestärkt wurden. «Chancengerechtigkeit gibt es nicht, die Lebensumstände variieren stark. Das kann man nicht in einem Jahr aufholen, aber alle Schülerinnen und Schüler, die die Kurve kriegen und eine Ausbildung machen können, sind ein Erfolg für uns. Wichtig ist, dass sie in diesem Jahr Selbstwirksamkeit erfahren», fasst Claudia Diez die Ausrichtung des Pilots zusammen.

Text: Charlotte Staehelin, Fotos: Grischa Schwank und Charlotte Staehelin