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Chancengerechtigkeit im Schulalltag

News

Eine Frage, vier Perspektiven: Eine Stufenleiterin, eine BO-Lehrperson, ein Heilpädagoge und die Leiterin Schulsozialarbeit machen sich Gedanken zur Frage: Wo begegnet Ihnen Chancengerechtigkeit in Ihrem Arbeitsalltag?

Peter Kalchofner sitzt draussen auf einer Bank vor einem Gebäude.
«Sie haben einfach nur Schiss vor der Welt da draussen.» 

Peter Kalchofner, Heilpädagoge, Sekundarschule Wasgenring
«Chancengerechtigkeit ist bei uns ein Riesenthema, geht es um die Berufsfindung. Die Schülerinnen und Schüler haben ganz unterschiedliche Ausgangspunkte. Diejenigen ohne ‹Lobby› haben es um Welten schwieriger als Jugendliche, die über ihre Eltern auf ein Netzwerk zugreifen können. Auch der Umgang und das Auftreten in einer unbekannten Berufswelt ist für manche Jugendliche schwierig. Haben sie Lust? Nicht unbedingt. Eigentlich wollen sie nichts mit Neuem, Fremden zu tun haben. Sie haben einfach nur Schiss vor der Welt da draussen.
Ist das noch gerecht angesichts der Unterschiede? Nein, ist es nicht. Wir als Schule müssen das nicht schönreden. Die Frage ist, welchen Anteil wir als Schule leisten können, um Ungerechtigkeiten zu minimieren. Es ist unbestritten, dass wir als Lehr- und Fachpersonen ganz viel in der Hand haben. Wir können es Schülerinnen und Schüler ermöglichen, Erfahrungen zu sammeln und sie beim Organisieren von Schnupperangeboten zu unterstützen. Im Moment nehme ich wahr, dass gewisse Lehr- und Fachpersonen gerne in Tätigkeitsbereichen denken. Dabei ist die Zusammenarbeit über die verschiedenen Rollen hinweg enorm wichtig. Wenn man zu zweit, zu dritt, zu viert an einem Tisch sitzt und sich über eine Situation austauscht, kommt man zu einer Lösung, die sonst vielleicht nicht auf dem Tisch gelegen hätte. Es ist wichtig, dass wir so arbeiten. 
In Bezug auf Chancengerechtigkeit könnten wir noch mehr tun. Ich bin überzeugt, dass wir viele Probleme auf Schulebene lösen können. Das hat mit Haltung zu tun. Der Rahmen der Schule, des Schulstandorts, des Kantons ist gesetzt. Es braucht keinen neuen Rahmen. Es braucht aber Lehr- und Fachpersonen, die alle Schülerinnen und Schüler mitnehmen wollen. Wir sind hier nicht in einem Bereich, in dem ich aussuche, mit wem ich zusammenarbeiten will. Wir müssen uns auf die Vielfalt einlassen und allen Jugendlichen eine Chance geben. Manchmal geht es besser, manchmal schlechter – aber wir haben ganz viel in der Hand.»

Aufgezeichnet von Tamara Funck, Foto: Grischa Schwank

Lotti Lienhard posiert vor bunter Wandmalerei, Menschen im Hintergrund.
«Chancengerechtigkeit muss im Verbund angestrebt werden.» 

Lotti Lienhard, Leiterin Schulsozialarbeit
«Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession. Sie hat den Auftrag, Chancengerechtigkeit zu erhöhen. 25 Prozent aller Schülerinnen und Schüler erleben familiäre Belastungssituationen: Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheiten, Sucht oder Streit. Gewisse Kinder oder Jugendliche können das selber ausgleichen, da sie genügend eigene Schutzmechanismen haben oder ein gutes Umfeld. Wenn das nicht trägt, sind wir da. Oft geht es darum, etwas zum Durchbruch zu verhelfen, zum Blühen zu bringen, Ressourcen zu aktivieren, die vorhanden, aber verschüttet sind. Wir erfassen Problemlagen, geben Einschätzungen ab und erstellen Handlungspläne für Lösungswege. Wenn ein Elternteil chronisch krank ist, können wir das nicht lösen, aber wir können dafür sorgen, dass die Situation gelindert wird. Chancengerechtigkeit bedeutet, dass man Unterstützung bekommt, wenn man in Schwierigkeiten gerät, und dass individuelle Förderung möglich ist. Dabei müssen wir an der Seite der Kinder und Jugendlichen bleiben. Wenn wir sehen, dass zwei Jugendliche sich im Schulhaus angehen, müssen wir reagieren, sonst ist das eine unausgesprochene Zustimmung dieser Situation. Als Erwachsene sind wir immer aufgefordert, zu reagieren. Denn die jungen Menschen müssen Sozialkompetenz lernen. Es ist ihr gutes Recht, dass sie es noch nicht können, aber sie müssen es lernen und wir müssen sie dabei begleiten und aufzeigen, wie man aus einem Streit wieder herauskommt. Die grosse Stärke unserer Volksschule ist, dass man lernt, wie man sich in einer Gruppe benimmt, die man nicht selber gewählt hat, sondern die gegeben ist. Die Klassengemeinschaft hilft, Lebenskompetenzen zu erwerben. Wenn wir im Unterricht Rassismus oder Vorurteile thematisieren, einen Leitfaden erstellen zur Verminderung von Diskriminierung, den Umgang mit Diversität vorleben oder uns mit dem Thema Transgender befassen, erhöht das die Chancengerechtigkeit im Klassenverband.» 

Aufgezeichnet von Charlotte Staehelin, Foto: Grischa Schwank

Gaby Hintermannsitzt lächelnd an einem Tisch in einem bunt dekorierten Raum mit Bücherregal und Pflanze.
«Chancengerechtigkeit ist keine Aufgabe für die Schule alleine.» 

Gaby Hintermann, Leiterin Primarstufe 
«Das Thema Chancengerechtigkeit begegnet mir auf unterschiedlichen Ebenen. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Eltern, die das Gefühl haben, die Chancengerechtigkeit sei an der Schule ihres Kindes nicht gegeben. Ihr Kind werde ungerecht behandelt. In solchen Situationen ist es mir ein Anliegen, für die Schule den Blick zu öffnen. Wir Pädagoginnen und Pädagogen sind Expertinnen für das Lernen – aber wir sind nicht die alleinigen Experten, um das Kind zu erfassen. Dafür braucht es auch die Perspektive der Eltern, des Kindes und auch noch weiterer Personen, die das Kind kennen. Im besten Fall gelingt es uns, gemeinsam unsere Sichtweisen zu erweitern und ein Verständnis für einander zu entwickeln. 
Um Chancengerechtigkeit drehen sich auch Gespräche mit Schulleitungen. Dabei geht es meist um die Frage: Wie können wir der Vielfalt der Schülerinnen und Schüler gerecht werden? Wie finden wir einen Umgang mit Unterschieden, ohne uns zu überfordern? Wie nehmen wir ChancenUNgerechtigkeit überhaupt als solche bewusst wahr? Wir bekommen mehr als genug gespiegelt, dass es noch ein weiter Weg ist bis zur Chancengerechtigkeit, vielleicht bleibt es sogar eine Utopie? Es ist nach wie vor eine Tatsache, dass oft die Gleichen zurückbleiben oder es schwieriger haben, ihr Potenzial zu zeigen. Für mich stellt sich daher die Frage: Was ist eine Leistung? Inwiefern hat sie mit Anstrengung zu tun? In unserer Gesellschaft glauben viele, dass wer sich anstrengt, begabt ist und gute Leistung erbringt, mit Bildungserfolg belohnt wird. Diese Sichtweise blendet aus, dass gewisse Menschen sehr viel privilegierter starten. Begabung und Leistungsbereitschaft sind nicht einfach angeborene Eigenschaften. Das Kind erbringt vielleicht eine wahnsinnige Leistung, aber in einem anderen Bereich als gefordert, zum Beispiel eine Anpassungsleistung. 
Chancengerechtigkeit ist keine Aufgabe für die Schule alleine. Wir müssen versuchen einen Weg zu finden, unsere Gesellschaft gerechter zu gestalten. Die Schule soll kein Biotop sein, das nichts mit der gesellschaftlichen Realität zu tun hat. Damit Chancen gerechter verteilt sind und wir mehr Potenzial nutzen können, müssen wir als gesamte Gesellschaft noch ein paar grössere Schritte machen.»

Aufgezeichnet von Tamara Funck, Foto: Grischa Schwank

Heiko Vollmer sitzt lächelnd in einem Klassenraum, andere Personen im Hintergrund.
«Jugendliche, die zu Hause auf die alleine gestellt sind, wissen oft wenig über sich selbst.» 

Heiko Vollmer, Lehrperson und Verantwortlicher Berufliche Orientierung, Sekundarschule Theobald Baerwart
«Die Jugendlichen kommen mit unterschiedlichen Chancen in Bezug auf ihre Sozialisation zu uns ans Baerwart. Wir haben ein Konzept entwickelt, womit wir mit Blick auf die Berufliche Orientierung versuchen, alle Schülerinnen und Schüler zu unterstützen, insbesondere diejenigen, die von zu Hause aus wenig Unterstützung bekommen. In der zweiten Klasse führen wir drei Spezialwochen durch. Es geht darum, Schlüsselkompetenzen zu erlernen, Betriebe zu besuchen, sich für erste Berufserkundungstage zu bewerben und eine Woche in einem oder mehreren Betrieben zu schnuppern. In der dritten Klasse begleiten wir die Jugendlichen konkret bei der Lehrstellensuche. Das ist für die Schülerinnen und Schüler freiwillig. Wenn sie mitmachen, müssen sie sich in der Regel jedoch so lange verpflichten, bis sie eine passende Anschlusslösung für sich gefunden haben. Diesen Teil der Arbeit finde ich sehr spannend, denn er schafft Verbindung und wechselseitigen Respekt. Ich lerne die jungen Leute von einer ganz neuen Seite kennen und sie merken: Da ist jemand, der sich für mich interessiert und mit mir an einer Sache arbeitet, das ist cool. Es ist oft Knochenarbeit. Denn Jugendliche, die zu Hause auf sich alleine gestellt sind, wissen oft wenig über sich selber. Sie sind es nicht gewohnt, über sich nachzudenken und sich mit ihren Eltern darüber auszutauschen. Wenn man sie nach einer Stärke oder einem Interesse fragt, wartet man lange. Da muss man nachbohren und das, was sie gut können, mit ihnen zusammen aus der Tiefe holen. Es ist für sie wichtig herauszufinden, wer sie eigentlich sind. Man muss den Prozess immer wieder von vorne beginnen und nicht aufgeben. Das gilt auch für Schülerinnen und Schüler, die viel Unterstützung von zu Hause bekommen. Auch sie sollen während der Phase der beruflichen Orientierung die Chancen bekommen, sich über sich selber Gedanken zu machen und zwar von innen heraus. Sie sollen unabhängig von den Wünschen und Anforderungen der Eltern ihren Weg finden. Auch da bin ich hartnäckig und stoisch.»

Aufgezeichnet von Charlotte Staehelin, Foto: Grischa Schwank