Bettagsmandat 2005
MedienmitteilungRegierungsrat
Angesichts der grossen Herausforderungen in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts prägte der Dichter Herman Broch den Begriff «Wertevakuum». Er steht für die Sorge, dass die Bedeutung von Leitlinien und Werten in den modernen Gesellschaften zunehmend in den Hintergrund tritt. Ethische Normen so wird auch heute oftmals bedauert verlieren vermeintlich an Kraft und Gewicht. Die Vergangenheit erscheint dann leicht als eine Zeit, die sicherer, gerechter und zuverlässiger war. Werte und Normen, Ethik und Tugenden gibt es jedoch nicht durch Konservierung, sondern allein dadurch, dass sie in jeder Zeit neu mit Leben und Sinn erfüllt werden.
Was ein Wert beinhaltet und wie er Ausstrahlung gewinnt, das zu bestimmen und zu erläutern, ist uns stets neu aufgetragen. So stellt sich etwa die Frage, wie «Gerechtigkeit» zu verstehen und zu praktizieren sei. Geht es allein um die Verteilung von Gütern oder steht ein bedingungsloser theoretischer Massstab im Blickpunkt? Kann es überdies eine Gerechtigkeit geben, die für alle immer gleich gilt? Die wohlmeinende, aber unverbindliche Rede von der Notwendigkeit der Ethik hebt das «Wertevakuum» nicht auf. Nur auf dem Wege der spürbaren Anwendung lässt sich die Wirksamkeit und das Gewicht eines gerechten Handelns ermessen.
Gerade in Basel hat sich die Fähigkeit entwickelt, wesentliche Grundsätze neu zu durchdenken und geradlinig anzuwenden. Die Lage am Schnittpunkt verschiedener Kulturen und an wichtigen Handelswegen hat es notwendig gemacht, beweglich zu sein, ohne die grosse Linie zu verlieren. So hat sich unsere Stadt offen gehalten und beispielsweise den Rechtsschutz für Fremde gepflegt. Gerechtigkeit wurde auch dem Reisenden und dem Neuen zugesprochen, in Form von Sicherheitszusagen, aber auch in der Weise der Toleranz. Nur weil Gerechtigkeit nicht ein privilegiertes Sondergut bildete, sondern sich im grossen Bogen unserer Stadtgeschichte als Grundbesitz aller durchsetzen konnte, wurde Basel nie wirklich zur «Geschlossenen Stadt». Die Wertebasis kann und muss nicht jeden Tag neu erfunden werden. Die Stadtgesellschaft steht im Strom der abendländischen Philosophie, der humanistischen Weltsicht und der jüdisch-christlichen Tradition der Bibel, die alle im «Generator» der europäischen Aufklärung neue Bedeutung und neue Gestalt erhielten. Diesem Fundament sind wir als Kanton verpflichtet. Nur auf dieser Grundlage wächst eine Gerechtigkeit, die Mut und Sicherheit gibt, Neues zu wagen. So wird ein «Vakuum an Werten» gefüllt mit Leitlinien, die sich in unserem denkerischen, spirituellen und praktischen Tun verwirklichen.
Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt